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Die erste Seele

Ein herrlicher Morgen war angebrochen. Die Vögel hatten ihr schönstes Morgenlied angestimmt und die Strahlen der Sonne spiegelten sich in den Tautropfen, die schwer auf den sattgrünen Blättern lagen. Auf einem dieser Blätter hatte sich soviel Wasser gesammelt, das es jetzt langsam in Form einer großen Wasserperle in der Mitte des Blattes entlang rutschte und an dessen Ende herunterfiel - genau auf meine Windkoboldnase.

"Iiiiiiiihhhh!" schrie ich und sprang auf. Dies war wirklich eine unsanfte Art aus dem angenehmsten Schlaf geweckt zu werden. Andererseits, wo ich nun schon einmal wach war konnte ich genauso gut wach bleiben. Also nahm ich noch einmal eine etwas ausgiebigere Dusche in einer Regenwolke und ließ mich anschließend von einer warmen Sommerbriese trocknen. Dann suchte ich mir erst einmal ein leckeres Frühstück. Genau genommen musste ich nichts essen. Das hatte mir jedenfalls der alte Windkobold erklärt, der mir kurz nach meiner Geburt so viel von den Naturgeistern und natürlich den Windkobolden erzählt hatte. Trotzdem, das Eichhörnchen, auf dessen Baum ich des nachts oft schlief, knabberte jeden Morgen genüsslich an einigen Nüssen oder Beeren. Und so hatte ich mir das auch angewöhnt, obwohl ich Nüsse eigentlich gar nicht so gern mochte.

Ich fand eine Stelle, an der herrliche Blaubeeren wuchsen und frühstückte dort in aller Ruhe. Danach überlegte ich mir, was ich wohl heute anstellen könnte. Ich beschloss nachzuschauen, ob ich nicht ein paar Kinder finden konnte, um mit ihnen zu spielen und sie zum Lachen zu bringen. Daher ließ ich mich langsam von einer fröhlichen Windböe über den Wald tragen bis ich tatsächlich einige Kobolde und Elfenkinder entdeckte, die im Unterholz Verstecken spielten. Ich sah ihnen eine Weile zu, flog dann hinunter und spielte mit ihnen bis die Sonne ihren höchsten Stand am Horizont einnahm. Die Kinder mussten zum Essen nach Hause und die Kobolde verabschiedeten sich, weil sie jetzt ihre neuesten Streiche ausprobieren wollten. Und da es langsam sehr warm geworden war, dachte ich mir, dass ein kleines Mittagsschläfchen eine gute Idee wäre. Als ich gerade auf dem Weg zu meinem Lieblingsbaum war, beschlich mich ein seltsames Gefühl. So, also ob ich unendlich müde wäre, und ein wenig übel war mir auch. Glücklicherweise dauerte dieses Gefühl nur den Bruchteil einer Sekunde und ich dachte, dass ich wahrscheinlich von der vielen Tollerei in der heißen Sonne sehr viel erschöpfter war, als ich es gedacht hatte. Ich legte mich auf meinen Lieblingsast und ließ meine Gedanken auf der Mittagsbrise hinfort schweben.

Gerade war ich friedlich eingedöst, da kam plötzlich ein ungewöhnlich heftiger Wind auf, so dass der Ast auf dem ich lag zu schwanken und zu hüpfen begann, wie ein Schiff im Sturm. Eine vage Melodie lag in dem Rauschen der Blätter und dem Pfeifen des Windes, eine kaum hörbare Musik, die mich jedoch unweigerlich in ihren Bann schlug. Wie in Trance erhob ich mich und flog über die Wipfel des großen Waldes. Unter mir sah ich einige der Elfenkinder, mit denen ich am Morgen so fröhlich gespielt hatte. Nur flüchtig bemerkte ich, dass eines der Kinder mir etwas zurufen wollte, dann aber innehielt und mich mit großen Augen ansah. Schließlich nickte es kurz und ging zurück zu seinen Kameraden. Normalerweise hätte ich mich über dieses seltsame Verhalten gewundert, doch ich schenkte diesem sonderbaren Zwischenfall kaum Aufmerksamkeit, sondern flog zielstrebig weiter.

Wohin jedoch wusste ich nicht. Über die Richtung jedoch hatte ich keinerlei Zweifel und so folgte ich ganz einfach meiner kribbelnden Nase. Nach einer ganzen Weile erreichte ich den Waldrand. Dort, an eine stämmige Eiche gelehnt, stand ein alter Elf. Sein Haar war grau und seine Haut von vielen, tiefen Furchen durchzogen. Seine Augen sahen mir müde und erschöpft entgegen. Doch da war noch etwas anderes als er mich sah. Ein Lächeln. Es begann in seinen Augen und wanderte dann hinab zu seinen Mundwinkeln. Er schien mich erwartet zu haben. Aber woher hätte er wissen sollen, dass ich herkomme, wenn nicht mal ich selbst es gewusst hatte? Nein, in seinen Augen sah ich es ganz deutlich: er hatte es gewusst. Er sprach kein Wort. Ich ebenfalls nicht. Ich wartete. Langsam schaute sich der Elf um, so als wolle er sich alles ganz genau merken, weil ein Abschied vor ihm lag und er der Welt danken wolle für die Zeit, da er ein Teil von ihr gewesen war. Der Wind fing sich in seinen Kleidern und ließ sie flattern. Der Körper des Elfen begann zu flackern, wurde durchsichtig und verschwand schließlich. Allein ein heller, silbrig leuchtender Fleck hing noch vor mir in der Luft. Ich streckte ihm meine Hand entgegen: "Komm. Es ist Zeit. Ich habe deinen Ruf vernommen und bringe dich nun wieder dorthin, wo du einst geboren wurdest."

Ich wusste nicht, wieso ich das gesagt hatte. Noch weniger wusste ich, woher ich wissen sollte, wo der Elf vor unendlichen Zeiten geboren wurde. Noch nie war ich in einer solchen Situation gewesen und niemand hatte es mir jemals beigebracht. Aber ich wusste, dass es genau das Richtige gewesen war. Ein herrliches, warmes Gefühl durchzog mich. Wie ein leichter Sommerwind, der durch die Äste der Bäume streicht öffnete sich die Tür meines Herzens ein Stück und ließ die Seele des alten Elfen ein. Ich nahm sie in mich auf und war mit einem Mal durchdrungen von fremden Erinnerungen, die in mein Bewusstsein aufstiegen. Eine tiefe Ruhe breitete sich in mir aus. Ein Gefühl, wie es nur solche Lebewesen kennen, die eine sehr, sehr lange Zeit gelebt haben. In diesem Moment schien die Welt ihren Atem anzuhalten; im Abschied von einem geliebten Freund. Es war seltsam, wie an diesem Ort, an dem so viele Vögel wohnten, plötzlich kein Laut mehr zu hören war und selbst der Wind vollständig verstummt war. Auch der kleine Bach, der am Waldrand sonst so fröhlich vor sich hinplätscherte hörte für einen kurzen Moment auf zu fließen. All dies dauerte nur einige wenige Sekunden, doch mir kam es vor wie eine kleine Ewigkeit. Endlich jedoch war alles wieder wie zuvor. Der Wind umspielte die Äste der Bäume von denen die Vögel ihre Lieder sangen und im Fluss schwammen einige kleine Fische schnell hin und her. Nichts ließ mehr erahnen was sich hier gerade ereignet hatte.

Obwohl ich nicht genau wusste, wo ich hinmusste, flog ich los. Von Zeit zu Zeit begegnete ich anderen Windkobolden, die spielten oder auch mit Botschaften von anderen Naturgeistern unterwegs waren. Es war nicht so, dass sie mich mieden, aber sobald sie mich sahen, machten sie umgehend Platz und nickten mir kurz zu, bevor sie weiter ihrer Wege flogen. Keiner von ihnen sprach mich an. Das war schon ein komisches Gefühl. Aber ich hatte keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen. Ich musste weiter. Zu einem Ort, dessen Existenz ich nur erahnte.



Wie lange ich auf diese Weise unterwegs gewesen war kann ich nicht sagen. Auch den Weg kann ich nicht beschreiben. Da war ein hauchdünner Faden, wie aus feinster Seide, der direkt zu meinem Herzen führte und der mich leitete. Der Weg war aber auch nicht wichtig. Wichtig war allein, dass die Seele nach Hause gebracht wurde. Koste es, was es wollte. Meine Kraft schien unerschöpflich.

Plötzlich hielt ich an. Ich war angekommen. An dem Ort, zu dem kein anderes Wesen jemals gelangen kann. Es war der Anfang und das Ende allen Lebens. Vor mir lag Lhur del Elomain, das Seelenmeer. Es schien unendlich weit zu sein. Aber, wenn ich es recht überlege, wahrscheinlich hat es tatsächlich kein Ende. Lhur del Elomain schimmerte still, wie blankes Silber in der Sonne. Nur hin und wieder kräuselte es sich sanft und dann erkannte man ein leichtes Glimmen unter der Oberfläche. Kein Laut war zu hören, doch die Stille bedrückte mich nicht, sondern sie war ungeheuer wohltuend. Ich wagte nicht mich zu bewegen oder auch nur zu atmen. Noch nie hatte ich etwas so schönes gesehen. Auf einmal glitt die Seele des alten Elfen wie ein hell leuchtender Tropfen aus mir heraus und verband sich mit dem Meer. Eine kleine Welle aus Freude und Dankbarkeit tanzte auf der Oberfläche und traf mich mit ihren seichten Ausläufern.

Für einige Momente stand ich nur staunend da. Doch plötzlich überfiel mich eine eisige Leere. Seltsame Bilder, Stimmen und Gefühle stürmten auf mich ein und ließen mich taumeln. Bilder von kleinen Elfen, die heiße Tränen vergossen, weil sie ihren Großvater nicht mehr wiedersehen würden. Ich spürte ihre Trauer und ich sah sie weinen. In diesem Moment war ich nichts mehr als dieser Schmerz.

Mit großer Anstrengung wandte ich meinen Blick vom Seelenmeer und begann meinen langen und schmerzerfüllten Heimweg. Es war allein meine Schuld, dass diese Kinder nicht mehr lachten und spielten. Meine Schuld, dass sie den alten Elfen nie wieder sehen würden. Warum nur hatte ich ihn mit mir hierhin genommen? So weit weg von seiner Familie und seinen Freunden. Warum war er gestorben, wenn er doch hätte wissen müssen, wie traurig die anderen sein würden? Warum sollte man überhaupt leben, wenn man am Ende so vielen Anderen dadurch Schmerzen bereitete? In diesem Moment beschloss ich, dass ich jedenfalls nicht mehr leben wollte. Ich wollte nie wieder diese Traurigkeit spüren. Mein Herz war schwer wie ein Stein und die Luft schien mich nicht mehr tragen zu wollen. Eine bitterkalte Schwärze umfing mich und ich stürzte in einen tiefen, düsteren Abgrund.



Langsam öffnete ich die Augen. Ich war an einem eigentümlichen Ort. Vor mir stand ein Baum von außerordentlich ungewöhnlicher Farbe, oder waren es viele verschiedene Farben? Ich konnte es nicht sagen. Um ihn herum war nur Nebel.
"Wo bin ich?" flüsterte ich, denn ich wagte nicht laut zu sprechen.
"Du bist in der Tiefe deines Geistes." sagte eine Stimme, die mir sehr bekannt vorkam. "Ich bin hier, um dir zu helfen. So wie es schon immer war. Seit der erste Windkobold die erste Seele eines Naturgeistes nach Hause gebracht hat."
Es war der alte Windkobold, der mir damals, kurz nach meinem Entstehen, so viel über die Naturgeister und die Windkobolde erzählt hatte. Seine Worte wärmten meine Seele und er lächelte mir tröstend zu. Bald fühlte ich wie der Knoten des Schmerzes in meiner Brust leichter wurde und sich langsam auflöste.
"Du hast nur einen Teil des Kreislaufs gesehen, mein junger Kobold. Ich werde dir jetzt etwas zeigen, was du dir für immer merken sollst."
Er nahm mich bei der Hand und führte mich durch den dichten Nebel bis wir plötzlich an den Ufern des silbern glitzernden Lhur del Elomain standen.

Mit einer Hand deutete er auf eine hell leuchtende Stelle in der Oberfläche des Meeres.
"Schau genau hin. Nur durch den Tod kann neues Leben entstehen. Es ist wahr, dass wir die Toten vermissen, aber sie gehen ihren Weg freiwillig und ruhen dann in Frieden. Bald schon aber werden wieder Kinder vergnügt spielen."
An der Stelle auf die er immer noch zeigte löste sich ein kleines Stück aus der Unendlichkeit des Meeres, schimmerte für einen Augenblick in der Luft und war dann plötzlich verschwunden. Aus der Ferne hörte ich ganz deutlich den Schrei eines neugeborenen Kindes und ich spürte die Freude der Eltern über das neue Leben. Ich verstand.

Alles Dunkle, was noch in meinem Herzen verblieben war verließ mich. Die Fragen, die mich so gequält hatten, waren beantwortet. Zwar würden mir diejenigen, die um ihren Verlust trauerten immer noch leid tun, aber ich wusste jetzt, dass dies der Weg des Lebens war. Und ich war glücklich, weil ich, ein kleiner Windkobold, viele andere Naturgeister auf diesem Weg begleiten durfte. Mit diesen Gedanken wachte ich auf.

Ich lag auf einer Klippe. Unverletzt. Der Wind musste mich wohl aufgefangen haben als ich stürzte und hatte mich sicher hierhin gelegt. Unter der Klippe schlug das Wasser gegen den Felsen und ich blieb einen Moment liegen und genoss die frische, salzige Luft und den Frieden, der meine Seele umgab. Mit einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen erhob ich mich schließlich und kam gegen Abend zu meinem alten Schlafplatz zurück. Das Eichhörnchen war auch schon da. Am Horizont verschwanden die letzten Strahlen der Sonne. Ruhig und voller Hoffnung auf den nächsten Tag schlief ich ein.


Chyalix
2003