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Fahrt ins Ungewisse

Der endlose Ozean. Ja, er wirkte wahrhaftig endlos. Ihn einmal zu überqueren war schon nervenaufreibend genug. Vor allem für diejenigen Naturgeister, die stark erdverbunden waren. Und nun hatten sie ihn gleich noch ein zweites Mal überquert. Wesweh, der Windkobold, hatte ihnen Finyens Botschaft überbracht, dass eine riesige Flotte der Finsternis gegen die Völker der Yddia segelte. Sie wurden zu Hause gebraucht, dringend! So hatten sie nur eben einige Truppen abgesetzt, die sich jetzt über einen längeren Weg über Land nach Ena Wolsan, dem Löwenreich durchschlagen sollten, um das Volk der Löwen im Kampf gegen die Dunkelheit zu unterstützen.

Ja, - endloser Ozean. Bei der zweiten Überquerung wirkte er sogar noch unendlicher. Seit einigen Nächten war nun schon das Diadem am Horizont des Sternenhimmels wieder zu sehen, sie hatten die Yddia erreicht und die Stimmung an Bord der Schiffe hob sich langsam, in der Hoffnung, bald die heimatliche Küste zu erreichen.

Wesweh, der Windkobold, kehrte zu ihnen zurück und begrüßte sie auf der westlichen Welt. Doch nur, um gleich wieder davon zu wehen und von ihrer Ankunft auf der Yddia Bericht zu erstatten. Wie dringend sie erwartet wurden!
Als das Diadem im Laufe der Tage und Nächte vom Horizont langsam in den Zenit rückte, leuchtete es nur schwach. Der Himmel im Nor schimmerte in eigenartigem Blau. Ein Leuchten, das immer stärker wurde, je näher sie ihm kamen, ein Leuchten, das die Sterne verblassen ließ.

Luyen del Riya stand auf dem Achterdeck der Tiaban del Lhur. Sie ließ den Blick über das Schiff schweifen. "Pfeil des Meeres", ein treffender Name für dieses wundervolle Langschiff, das jetzt von Segeln und Rudern angetrieben durch die Wogen schnitt. Es war zwar Nacht, aber das blaue Leuchten erhellte alles genug, dass sie auch Einzelheiten ohne Mühe gut erkennen konnte. Wie schon in der letzten Nacht standen einige ihrer Mannschaftsmitglieder am Bug des Schiffes an der Reling und starrten auf das blaue Leuchten. Inzwischen waren sie dem Leuchten sehr nah gekommen. Es schien, als könnten sie es fast berühren.

Nervös begann Luyen, auf und ab zu gehen. Sie wurden gebraucht, sicher. Aber sollte nicht auch jemand nachsehen, was dieses eigentümliche Leuchten zu bedeuten hatte? Sie waren so nah dran!

Sie fühlte den Blick ihres Steuermannes auf sich ruhen und blieb stehen. "Entschuldige, Brydar. Ich weiß, das macht dich nervös." Sie lächelte etwas gezwungen und starrte wieder nach vorn.

"Ich bin nervös. Genau wie du." Brydar Silberhammer, der Zwerg, seit vielen Jahren ihr Steuermann, schaute grimmig hinunter auf das Deck. Er mochte nicht mehr das Meer anschauen. Davon hatte er im Moment genug. "Aber du hast recht, es macht mich noch nervöser."

Schweigend zwang sich Luyen, stehen zu bleiben. Das Leuchten war wie eine Art Vorhang, der bis auf das eisige Wasser herunterhing. In wenigen Stunden könnten sie es erreichen, könnten hineinfahren und sehen, was dort war. Die Silberelfe merkte gar nicht, dass sie schon eine ganze Weile gedankenverloren das Leuchten anstarrte.

"Luyen, ich rufe dich! Wesweh, der Windkobold hat mir berichtet, Du wärst zurück auf der Yddia. Wie ist es euch ergangen?" Luyen würde nie so wirklich verstehen, wie Finyen das machte. Es hatte etwas mit Oberons Kräften zu tun, die dieser auf Finyen übertragen hatte, als er auf Wanderschaft ging. Sie schrak jedenfalls aus ihren Gedanken hoch. "Sei gegrüßt, Finyen! Wir hatten zum Glück nur wenige Verluste. - Im Nor ist ein mächtiges blaues Leuchten zu sehen. Es nimmt den halben Himmel ein. Könnt ihr es auch sehen?" Es musste doch weithin zu sehen sein. Hier sah es so aus, als könne es die ganze Yddia erhellen.

"Nein, es erstreckt sich nicht bis zu uns", antwortete Finyen.

Luyen überlegte einen Moment. Ob Finyen jetzt, in der derzeitigen Situation, Verständnis für ihre Neugierde aufbringen würde? Aber was, wenn auch von dem blauen Leuchten eine Gefahr ausging? "So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich würde gerne herausfinden, was das ist", brachte sie schließlich hervor.

Es dauerte auch einen Moment, bis Finyens Antwort kam. Sie musste wohl auch erst überlegen. "Gut, nimm alle mit, die Dich freiwillig begleiten wollen, den Rest schick nach Hause. Wind in Deinen Segeln und ein fröhlicher Klabauter."

Luyen bedankte sich und das Gespräch war beendet. Und doch spürte sie, dass die Verbindung noch immer leicht bestand. Wieviel Kraft musste Finyen das kosten! Aber sie wollte wohl wissen, was nun geschah.

Zunächst gab es natürlich ein riesiges Durcheinander, als Luyen die Nachricht, dass sie in das Leuchten hineinfahren wollte, auf den anderen Schiffen verbreiten ließ. Auf jedem einzelnen Schiff wurde heftig diskutiert, jeder einzelne Naturgeist meldete sich zu Wort.

Selbst die Schiffe wurden gefragt. Denn jedes der silbernen Naturgeisterschiffe war ein mächtiger Baum, der sich entschlossen hatte, den kühlen, schattigen Wald gegen die unberechenbaren Wogen des Meeres einzutauschen. Sie lebten und sie fühlten. Und es waren die Klabautermänner und -frauen, die mit den Schiffen sprachen, die zu den Schiffen eine oft tiefe Beziehung hatten. Ihre Aufgabe war es nun, herauszufinden, welche Schiffe bereit waren, das Leuchten zu erkunden.

Es stellte sich heraus, dass etwa die Hälfte der Schiffe und auch der Naturgeister sich dafür entschieden hatte, Luyen zu begleiten. Die Hälfte! Luyen war einigermaßen entsetzt. So viele hatte sie gar nicht mitnehmen wollen. Aber sie hatten es selbst entschieden.

Nun begann erst das richtige Chaos. Naturgeister aller Art wechselten von einem Schiff zum anderen und so manches Mal war ein Koboldlachen zu hören, manchmal gefolgt vom Schimpfen eines Elfen, einer Fee oder eines Zwerges. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis alle dort waren, wo sie sein wollten.

Luyen war sehr froh, dass ihr Steuermann Brydar sich entschlossen hatte, sie zu begleiten. Sie fuhren schon so lange zusammen zur See. Und sie wusste genau, wie sehr er sich danach sehnte, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Trotzdem blieb er bei ihr. Mit einem brummigen, "Glaubst du, ich überlasse das ganze schöne Abenteuer dir?", hatte er seine Entscheidung gefällt.

Nervös atmete Luyen tief durch, bevor sie schließlich den Befehl gab, die Segel vor den Wind zu richten und die Ruder wieder aufzunehmen. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, die Hälfte der Flotte zurückzulassen und die andere ins Ungewisse zu führen. Was mochte sie erwarten?

Noch immer spürte Luyen die Verbindung zu Finyen. "Wir halten jetzt auf das Leuchten zu", meldete sie, kurz bevor sie den Vorhang erreichten. "Was siehst Du?" Die Frage war schon nur noch leise und undeutlich zu hören, denn gerade erfasste das blaue Leuchten das Schiff. Ob ihre Antwort Finyen noch erreichte, konnte Luyen nicht mehr wissen. "Bei Oberon, - - es ist voller Sterne."

© 2003 by Luyen del Riya