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Der See

Dies ist eine Geschichte über Menschen. Sie könnte überall spielen, wo Menschen leben, denn die Menschen sind überall gleich.

Es gab einmal einen großen See am Fuße eines Gebirges. Er wurde von einer stattlichen Quelle gespeist, und ein munterer Bach hatte sich seinen Weg vom See hinweg durch die Erde gebahnt.
Eines Tages kamen die Menschen an diesen Platz, der so von der Natur verwöhnt worden war. Gut, sagten sie, hier wollen wir leben.
Sie ließen sich dort nieder, und bald entstand ein kleines Dorf mit einer Mühle und einer Schmiede und auch ein Gasthaus war schnell gebaut. Der Boden war fruchtbar und das Wasser rein, und das Dorf gedieh. Schnell wuchs seine Bewohnerzahl und mit ihr auch die Menge der Häuser. Und natürlich wuchs auch die Menge des Unrates, der sich ansammelte. Da hatten die Menschen eine Idee: Lasst uns doch den Unrat in den See werfen. Aber, fragte jemand, wird dass nicht dem Wasser schaden? Aber nein, sagten die Leute, der See ist groß und das Wasser tief, das soll uns nicht kümmern.

Eine Weile ging das gut, doch dann versiegte der Bach. Warum darüber aufregen, sagten die Leute, so etwas geschieht aller Omen.
Und so lebten sie weiter. Das Dorf wurde immer größer und prächtiger und schließlich bauten seine Bewohner eine Palisade, weil sie sich allmählich als kleine Stadt fühlten. Noch immer warfen sie ihren Unrat in den See; und es wurde natürlich mehr, je mehr Menschen dort wohnten. Irgendwann begann der See kleiner zu werden, seine Ränder trockneten aus, wurden braun und rissig. Und wieder fragte jemand: Sollten wir nicht aufhören, den Unrat in den See zu werfen?
Er ist jetzt kleiner als früher. Aber nein, sagten die Leute, der See ist immer noch groß, und das Wasser tief genug, das soll uns nicht kümmern.

Die Menschen lebten dort weiter, das Dorf wurde noch größer. Und tatsächlich, sie bekamen vom ortsansässigen Herrscher die Stadtrechte und ersetzten die Holzpalisade durch eine Steinmauer.
Nun waren sie eine richtige Stadt. Das zog noch mehr Menschen an und immer mehr Unrat wurde in den See geworfen. Der See aber wurde noch kleiner und sah schon bald richtig hässlich und krank aus.
Und wieder fragte jemands Sollten wir nicht wirklich aufhören, unseren Unrat hineinzuwerfen? Der See ist nur noch halb so groß wie früher. Aber nein sagten die Leute, der ist immer noch groß genug, und das Wasser immer noch tief genug, das soll uns nicht kümmern.

Und sie lebten weiter wie bisher. Der See aber wurde immer kränklicher, und die einstmals stattliche Quelle spendete zusehends weniger Wasser, bis sie nur noch tröpfelte und schließlich ganz versiegte. Der See trocknete aus und hinterließ nichts als Unrat und schmutzige Erde. Die Menschen murrten und waren erzürnt über die Boshaftigkeit der Natur; und sie schimpften auf ihre Götter, die sich im Stich gelassen hatten. Dann packten sie ihre Sachen und zogen fort.
Denn so sind die Menschen: Wenn das Alte vergangen ist, so suchen sie sich etwas Neues und machen dort weiter, wo sie aufgehört haben.
Das Quellmännlein aber, was einstmals an diesem Ort gelebt hatte, machte sich auf den Weg zur Geisterinsel.

Epilog
Ein anderer Naturgeist erfuhr von ihm die Geschichte des Sees und auch, daß das Quellmännlein dem Wasser geraten hatte, sich neue Wege zu suchen und den See zu verlassen. Warum hast du ihnen nicht einen anderen Weg zu leben gezeigt, wie es unsere Art ist, fragte der andere Naturgeist. Was hätte ich ihnen mehr zeigen können, als das, was sie mit eigenen Augen gesehen haben, antwortete das Quellmännlein.

Finyen
1995