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Dies ist eine Geschichte aus der Zeit des langen Winters und der Vertreibung in Clanthon. Obwohl diese schwere Zeit jetzt hinter uns liegt, begründet das Beschriebene einen neuen Anfang für beide Völker.
Eine kurze Passage ist der Geschichte "Clanthons Kinder" von Marion Vrybicky (Follow 353) entlehnt.
Als Hintergrund lese man die Geschichte "Der Zauber vergeht" ebenfalls von Marion Vrybicky (Follow 352).


Angst ist ein schlechter Ratgeber

Eine Ratsversammlung in Titania

Es summte in der Ratshalle von Titania, wie in einem Schwarm Atomies. Fast alle Ratsmitglieder waren schon da und debattierten lautstark über die Neuigkeiten wegen derer sie sich so schnell versammelt hatten. "Menschen" tönte es allenthalben und dieses Wort rief sowohl freudige und neugierige Erwartung als auch rigorose Ablehnung hervor. Durch das Stimmengewirr klang hell der Schlag eines silbernen Hämmerchens, mit dem Jiselle, derzeitige Repräsentantin des Rates auf einen ebenfalls silbernen Amboss schlug.

Auch wenn das Geräusch Mühe hatte, seinen Weg durch das Lamentieren und Schwatzen in aller Ohren zu finden wurde es zusehends ruhiger. Die Ratsmitglieder begannen, hier und da noch Gespräche beendend, ihre Plätze einzunehmen. Jiselle wartete. Es fiel ihr heute schwer, die nötige Geduld dafür aufzubringen. Sonst kam es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an, bis die Sitzung begonnen werden konnte. Aber heute war es wirklich eilig.

Langsam wurde es ruhiger. Mehr und mehr Augenpaare richteten sich auf die Oreade, die in ein braunes Gewand gehüllt am Kopf des Tisches stand. Braune Blätter hingen daran und im Gewirr ihres Haars glitzerten betaute Spinnweben wie auf einer herbstlichen Wiese. Ihre Haut war braun wie feuchte Erde und ihre ebenfalls braunen Augen glänzten in ihrem Gesicht wie zwei frischgeschlüpfte Kastanien. So wie man sie an ihrem Äußeren gleich als Erdfee erkannte, so verrieten auch die Erscheinungen der anderen Anwesenden deren Herkunft. Orangerot leuchteten die Schöpfe der Feuerkobolde, die aus der Feuerzinne von Titania heruntergekommen waren. Sie saßen in großen Messingschalen und brachten die darin liegenden Kohlen zum Glühen. Die Silberelfen, in Weiß und Silber gekleidet, waren schlank und hochaufgerichtet im Wuchs. Die Haut der Zwerge hatte die Farbe von Stein in allen Schattierungen. So gab es graue und rötliche Gesichter, gelegentlich mit dunklen oder silbrigen Adern durchzogen. Und noch etliche andere Feen, Zwerge, Kobolde und Elfen konnte man sehen, die alle einzigartig waren.

Jiselle wartete nur noch auf zwei Mitglieder des Rates, und dass, weil deren Anwesenheit heute von besonderer Wichtigkeit war. Eben schaute sie, ein wenig ungeduldig schon, zur großen Flügeltür der Ratshalle, als Schritte auf dem Gang ertönten und Fjoll Sturmlotse erschien. Er war etwa drei Fuß groß, trug einen zerzausten grauen Bart und eine leuchtend blaue Jacke; darunter eine abgerissene Leinenhose und hohe gewachste Stiefel. Ein Klabautermann also. Fjoll Sturmlotse war Freund der Farer, einer Sippe von seefahrenden Greenlandern, die mit den Naturgeistern in Titania Handel trieben. Der Seeweg führte sie durch ein Gebiet mit gefährlichen Klippen und Untiefen und die Klabautermänner halfen ihnen als Lotsen, ihren Weg gefahrlos zurückzulegen. Fjoll hatte demnach Erfahrungen mit Menschen und das sollte diesmal von großem Nutzen sein.

Erfahrungen mit Menschen hatte auch Cyghian, Handelsmeister von Titania, ein Silberelf. Er war es, der als Repräsentant der Naturgeister den Handel in Titania organisierte, die Einhaltung der Handelsregeln überwachte und auch die unangenehme Aufgabe übernahm, Fremde, die dagegen verstießen aus der Stadt zu weisen. Meist musste er auch dafür sorgen, dass sie das Land verließen, weil ihr mangelndes Verständnis für die Natur dazu führte, dass sie wider sie frevelten wo sie gingen und standen. Der Zorn, den er in der ersten Zeit seines Amtes darüber verspürte, war mittlerweile verflogen und er hatte nur noch ein Kopfschütteln für diese selbstherrlichen Geschöpfe übrig. Gelegentlich ertappte er sich dabei, wie er der Natur dankte, dass sie diesen Wesen lediglich dreißig bis fünfzig Sommer erlaubte, sie zu besudeln.

Jetzt kam er mit langen Schritten durch die Flure der Zitadelle von Titania geeilt, um den Rat nicht zu lange warten zu lassen. Er wusste, warum er so dringend benötigt wurde und er war nicht glücklich über seine Aufgabe. Sie würden ihn über Menschen ausfragen, wie sie zu beurteilen seien und ob man ihnen vertrauen könnte. Was würde er sagen? Die Wahrheit? "Den meisten nicht." müsste er antworten und viele würden ihm zustimmen. "Aber viele sind wunderbar." würde er zufügen, "Verständig, besonnen und gütig." Aber diesen letzten Satz würden sie nicht mehr hören. Er würde in dem allgemeinen Geschnatter untergehen und unglücklich müßte er, Cyghian, verfolgen, wie Furcht und Verletztheit zu falschen Ratgebern würden.

Vor der Tür zur Ratshalle hielt er an. Er wollte nicht mit einem sorgenvollen Gesicht vor die Versammelten treten. Er holte tief Luft, besann sich der Wichtigkeit seines Hierseins und trat entschlossen in die Halle.

Jiselle atmete auf. Endlich konnte sie beginnen. Sie richtete ihre Augen auf den Rat und wies Cyghian mit ihrer bemoosten Hand, sich zu setzen.

"Liebe Freunde", begann sie, "ich habe euch zusammengerufen, weil heute morgen eine wichtige Nachricht aus Oberonia angekommen ist, die uns große Veränderungen bringen wird. Einige von euch haben vielleicht schon vernommen, worum es geht, aber ich möchte des Königs Boten, Wesweh Windkobold, noch einmal berichten lassen." Dann setzte sie sich und schaute den neben sich sitzenden Kobold auffordernd an. Wesweh erhob sich, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Er richtete sich auf und schwebte dann etwa vier Fuß über dem Boden. Eine leichte Brise wehte durch den Raum, als er sprach, und trug seine Worte an alle Ohren. "Weit über das endlose Lhur liegt das alte Land. Einige von uns leben oder lebten dort, wenn auch nicht so viele, wie hier. Die meisten flohen vor der Finsternis, um sie hier wiederzutreffen und endlich zu besiegen. Aber jetzt leben in der Alten Welt wieder Leid und Grausamkeit auf und Elbenkönig Oberon hat seine Hilfe angeboten, um Menschen aus den besiegten Landen zu retten." Ein Murren ging durch den Saal. Viele sahen ihre Befürchtungen bestätigt und andere erfasste brennende Neugier und die Freude auf etwas Neues. Uneinig waren die Mitglieder des Rates und das Schwatzen verebbte nur langsam als Wesweh weitersprach. "Ja, es sind Menschen aus einem Land namens Clanthon. Das Land ist in Kälte erstarrt und ihre Feinde haben sie aus ihren Heimstätten vertrieben. Viele Angehörige dieses Volkes haben Unterschlupf bei anderen Völkern Magiras gefunden und die Bewohner der Stadt Descaer sollen hier bei Titania eine neue Heimat finden." Es wurde wieder unruhig im Saal, aber Wesweh wollte sich nicht unterbrechen lassen, er wollte seine ganze Nachricht verkünden, bevor darüber debattiert wurde. "Morgen, nach der Mittagsstunde wird ein Tor geöffnet, von der Alten Welt hierher nach Vül dhio Nedeih und sechshundert Menschen und", Wesweh musste seine Stimme nun brausen lassen, um das Getuschel zu übertönen, "und auch die Feen dieses Landes werden in die Ebene von Titania kommen." Jetzt war es totenstill und alle Gesichter starrten Wesweh an. "König Oberon hat diesen Menschen Asyl gewährt und bittet den Stadtrat von Titania, ihnen nach Kräften beizustehen und ihnen jede Hilfe zukommen zu lassen, die sie benötigen." Damit sank Wesweh herab auf seinen Stuhl.

Einen kurzen Moment herrschte Stille und Jiselle glaubte beinahe mit der Sitzung fortfahren zu können, als die allgemeine Verwunderung gebrochen war und alles begann, durcheinander zu reden. Mit einem Seufzer setzte sie sich wieder zurück und sah mit einem Schulterzucken zu Wesweh hinüber. "Wir müssen sie erst ein bisschen diskutieren lassen", sagte sie laut zu dem Windkobold, "sonst ist an keine vernünftige Beratung zu denken."

In der Ratshalle waren heftige Wortgefechte im Gange. Etliche Naturgeister empörten sich, wie König Oberon Menschen, die den Naturgeistern und der Natur doch so viel Böses angetan hatten, in ihr eigenes Land holen konnten, helfen oder nicht. Andere waren unentschlossen, ob es nicht Zeit sei, sich mit den Menschen zu befassen und Beziehungen aufzubauen und wieder andere waren so neugierig, weil sie noch nie andere Wesen als Naturgeister gesehen hatten, dass sie die Bedenken der anderen leichtsinnig abtaten.

Jiselle hörte hier und da ein bisschen zu, sagte aber kein Wort. Und als sie befand, dass es keine neuen Erkenntnisse geben würde und jeder seinen Standpunkt mehr oder weniger dargelegt hatte ging sie zurück zu ihrem Platz am Kopf der Ratstafel und schlug mit dem Hämmerchen auf den silbernen Amboss. Erstaunlich bald verstummten die Ratsmitglieder, vielleicht deshalb, weil ihren Beratungen und Diskussionen sonst viel mehr Raum gegeben wurde. Jetzt wandten sich alle der Repräsentantin des Rates zu, begierig, Gelegenheit zu bekommen, die eigene Meinung zu vertreten. Aber Jiselle hatte andere Pläne.

Sonst legten sie und auch alle anderen Mitglieder des Stadtrates von Titania viel Wert darauf, alle Meinungen zu hören, alle Aspekte zu bedenken und eine Angelegenheit rundherum zu beleuchten. Jedem Redebeitrag wurde Gehör geschenkt und die Sitzungen dauerten meist mehrere Tage. Aber dadurch wurden die Beschlüsse meist von allen Mitgliedern getragen und damit auch in der Stadt vertreten. Dieses Mal lag die Sache anders. Es musste eine schnelle Entscheidung getroffen werden und eigentlich gab es auch nichts zu entscheiden, sondern nur zu überzeugen. König Oberon hatte die Unterstützung der Naturgeister zugesagt und hier in Titania lebten die wenigen Menschen, die es im Naturgeisterreich gab. Hier kannte man sich am besten mit ihnen aus und auch die Flüchtlinge würden hier am ehesten Anschluss finden. Aber das war nur ein Teil der Gründe, die den Rat schließlich überzeugen sollten. Jiselle wollte alles, was zu der Entscheidung, die Menschen aus Clanthon geführt hatte vor den Rat bringen, ohne die Gelegenheit zu geben, jeden einzelnen davon zu erörtern. Und dann sollten die Mitglieder ihre Entscheidung treffen, allein und jeder für sich selbst. Wenn sie Glück hatte würde das am frühen Abend der Fall sein, schlimmstenfalls spät in der Nacht. Keinesfalls aber sollte es bis zum nächsten Morgen dauern, denn es mussten noch viele Vorbereitungen getroffen werden bei denen man die Hilfe der ganzen Stadt benötigte. Deshalb mussten alle Ratsmitglieder hinter der Entscheidung stehen.

Zunächst aber wollte sie ein oder zwei Stimmen gegen die Aufnahme der Flüchtlinge zu Wort kommen lassen um dann mit ihren Argumenten anknüpfen zu können. Sollten sich nach ihrem Vortrag noch einige Anwesende gegen Oberons Anweisungen aussprechen müßte wohl doch noch länger beraten werden. Hoffentlich würde es nicht dazu kommen.

"Liebe Freunde", begann sie wieder, "ich bitte nun diejenigen sich zu Wort zu melden, die Einwände gegen die Aufnahme der Flüchtlinge haben." Jiselle hatte ihre Worte sehr sorgfältig gewählt, denn sie wusste, dass diejenigen, die gegen das Kommen der Clanthonier stimmten selbst einmal Flüchtlinge gewesen waren und wussten, was Heimatlosigkeit bedeutete. Und einer von diesen, Kilroy von den Waldelfen, erhob jetzt die Stimme: "Jiselle, liebe Freunde, was ich zu sagen habe ist nicht nur meine Meinung, sondern die Meinung vieler Anwesender hier im Rat. Insbesondere derer, welche die Zeit der Finsternis nicht in der sicheren Geisterwelt verbracht haben, sondern hier auf Magira gegen die Dunkelheit kämpften."

Da war er, der erste Seitenhieb, unübersehbar und mit grimmiger Überzeugung geführt. jeder hier wusste, dass Kilroy einer der letzten war, der das alte Land verlassen hatte. In drei kleinen, baufälligen Schiffen kam er damals herüber und mit ihm an die vierzig andere Naturgeister, die nach schweren Verlusten doch entschieden hatten, die neue Welt zu suchen. Nahezu seine gesamte Sippe war von Menschen ausgerottet worden, welche die Elfen fürchteten, Oberon weiß warum. Er hatte wirklich allen Grund, den Sterblichen zu misstrauen, das war auch der Grund, weshalb er einen Sitz im Rat hatte: um die Naturgeister, die in ihrer Begeisterung, freundlich und vergebend zu sein manchmal jegliche Vorsicht vergessen ließen, zur Umsicht zu mahnen und ihr Vertrauen nicht leichtfertig zu verschenken.

Bisher hatte Kilroy seine Aufgabe auch mit Sorgfalt und kühlem Verstand versehen, aber heute konnte man in seinen Augen eine unbekannte Leidenschaft sehen, die verriet, dass ihm dieses Thema sehr nahe ging. Er zügelte sein Feuer ein wenig und sprach weiter:

"Es ist Wahnsinn, sich eine große Anzahl von diesen Sterblichen hier vor die eigene Haustür zu holen. Niemand kann sagen, welchen Sinnes sie sind. Vielleicht wissen einige von ihnen das Gastrecht zu schätzen aber wieviele werden das sein und was wird der Rest tun? Denkt daran Freunde, wie ungern ihr jemanden abweist. Es kann leicht sein, dass ihr das bei diesen Menschen des öfteren tun müsst. Wer verbürgt sich dafür, dass sie hier keinen Schaden anrichten und unser Land in Besitz nehmen, wie sie es anderswo gedankenlos zu tun pflegen? Sie sind gefährlich und unberechenbar, glaubt mir, Freunde!" Kilroys ganze Gestalt verriet nun seine Anspannung und auch Verzweiflung. Er focht mit sich einen schweren Kampf. Vor seine Augen sah er Menschen mit grimmigen oder hämisch lachenden Gesichtern, die Bäume fällten und Gras und Buschwerk verbrannten. Er hörte fast ihre lauten Stimmen Anweisungen und Drohungen brüllen, dabei achtlos zertrampelnd, was den Naturgeistern wert und teuer war. Aber es schlichen sich auch andere Bilder in Kilroys Gedanken, Bilder von angsterfüllten, ausgehungerten Gesichtern, von weinenden und zitternden Kindern und gehetzt davonlaufenden Menschen. Er sah sie ihm bittende Hände entgegenstrecken und die Verzweiflung in ihren Augen, wenn er sich abwandte. Nach kurzer Pause beendete er seinen Rede mit den leisen Worten: "Wir können dieses Risiko nicht eingehen."

Jiselle ließ ihren Blick auf der Gruppe von Waldelfen ruhen, aus denen Kilroy hervorgetreten war. Es herrschte Unruhe unter ihnen. Sie hatten mit Befremdung gesehen, wie Kilroy mitten in seiner Rede plötzlich nachgelassen und kraftlos und überhaupt nicht mehr von seiner Sache überzeugt, geendet hatte. Jiselles Augen trafen die von Ferija. Die Augen der Waldelfe waren dunkel vor Zorn und hielten Jiselles Blick fest. Dessen Sanftheit vermochte nicht das Gemüt Ferjias zu beruhigen sondern machte sie eher noch wütender.

In diesem Moment meldete sich jemand zu Wort, von dem es wohl niemand, am wenigsten Jiselle erwartet hätte. Mit leisen glucksenden Geräuschen trat das Quellmännlein Pnutsch hervor. Sein kleiner Körper war leicht bläulich mit einer Haut, wie man sie von Walen oder Delphinen kennt. Dabei glänzte sie feucht und wo Pnutsch stand bildeten sich nach kurzer Zeit Wasserpfützen. Zwischen seinen Fingern hatte er Schwimmhäute und sie endeten in Saugnäpfchen, wie die der Eidechsen und Molche. Ein Wasser- oder Teichkobold also. Jiselle hatte nicht erwartet, dass sich ein Kobold gegen die Aufnahme der Sterblichen wenden würde. Sie waren immer freundlich und ihre Neugier ließ beinahe niemals auf etwas verzichten. Auch Wesweh sog hörbar Luft ein, als er Pnutsch vortreten sah.

"Stadtrat von Titania, ich muss den Worten des Waldelfen recht geben. Die Sterblichen achten nicht das, was für uns das wichtigste auf Magira ist, sie versklaven und missbrauchen es. Und was ihnen im Weg ist zerstören sie, meist noch nicht einmal wissend was es eigentlich war. Manchmal, und davon kann ich berichten, zerstören sie es aber auch aus purer Lust am Leid." Klang Pnutsch' Stimme bisher forsch und mächtig wie ein Wildbach, so wurde sie jetzt zusehends ruhiger, wie ein breiter Waldstrom, der in einen schattigen Teich mündet. "Mein Schützling, der mit dem Fluss bergab ging um sich ein eigenes Zuhause zu suchen, wurde von einem Menschen gefangen und mit der bloßen Hand zerrissen." Der Strom seiner Stimme verschwand abrupt in einer Erdspalte.

Der Rat war still. Das hätte niemand gedacht, dass die Sterblichen solche Bösartigkeit besäßen. Pnutsch beruhigte sich, als dünnes Rinnsal sprach er zuende: "Wenn einer von ihnen zu so etwas fähig ist, was wird dann eine ganze Masse für uns bedeuten?"

Betroffene Gesichter blickten sich an. In den Köpfen der Anwesenden stürmten mehr oder weniger schreckliche Bilder herum: Feuer und Geschrei in den Straßen der weißen Feenstadt. Blut, das die glatten, marmornen Mauern herunterlief, kalte Waffen in vergehenden Herzen und über allem das wütende Brausen der Windkobolde, welche die Seelen der toten Naturgeister davontrugen. Würden sie sich wirklich ins Unglück stürzen, wenn sie diese Menschen in ihr Land ließen?

"Aber Oberon hat es versprochen!" rief heftig eine kleine Stimme in die düsteren Gedanken der Ratsmitglieder. Deren Köpfe flogen auf, um zu sehen, wer das gesagt hatte. "Oberon hat es versprochen!" erklang die Stimme noch einmal. Mitten auf dem Ratstisch stand eine Kleinfee. Aufgeregt zitterten ihre samtblauen Flügelspitzen und sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt. "Wie könnt ihr glauben, dass Elbenkönig Oberon uns einer solchen Gefahr aussetzen würde. Eure Angst macht euch ungerecht. Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber. Was, wenn ihr unsere Hilfe nicht anbötet, wer von euch könnte sich noch in einem Wasserspiegel betrachten, ohne ein herzloses, selbstsüchtiges Wesen zu sehen?"

Es blieb still. Niemand hatte etwas zu erwidern. Jiselle nickte bedächtig mit dem Kopf. In die Stille erhob sich ein leises Rauschen von Wind, und wie sich der Wind erhob, so tat dies auch Wesweh, der Windkobold. Lange hatte er wartend neben der Oreade gesessen, nun schwebte er zwei Fuß über dem Tisch und seine Stimme brauste: "Bedenkt gut, wie ihr euch entscheidet. Ich bin über das große Wasser geflogen und bringe euch Nachricht von denen, die ihr nicht willkommen heißen wollt. Denn wir Windkobolde tragen nicht nur die Seelen der vergangenen Naturgeister davon, sondern auch die Seelen derjenigen, die nicht wissen, wohin sie gehen sollen, der Verirrten, der Kinder und der Heimatlosen." Die Böen um Wesweh begannen zu brausen, zerrten an seinem Haar und Gewand. Immer weitere Kreise zog sein Wirbel und schloss nach und nach die ganze Ratsversammlung ein.

Und der Wind brachte Bilder vor ihre Augen und Geräusche an ihre Ohren. Es wurde kalt. Der Atem der Elfen, Feen und Kobolde gefror. Auf der Haut der Zwerge bildetet sich Raureif. Zarte Flocken von Schnee rieselten sanft auf die Naturgeister nieder. Sie sahen zwei Kinder. Sie gingen über eine Brücke und führten ein Pferd, dahinter kamen drei weitere und stapften mühevoll und frierend durch tiefen Schnee. Plötzlich rutsche eines davon aus und stürzte von der Brücke in den Fluss. Mit sich riss es die beiden anderen, die es an Händen gehalten hatte. Die Kinder mit dem Pferd rannten herbei, aber es gelang ihnen nur noch zwei der Kinder aus dem winterlichen Fluss zu ziehen.

Die Ratsmitglieder sahen dem blonden Kopf des dritten Kindes nach, aber es erschien kein hilfreiches Quellmännlein oder einen Najade, die es über Wasser hielt und an einer ruhigen Stelle ans Ufer legte. Der Junge, der ihm nachgerannt war kam allein zurück. Heftiger begann der Wind in der Ratshalle zu toben und Schneegestöber entzog die Kinder den Blicken der Anwesenden. Zwischen den tanzenden Flocken meinten sie, die Gesichter der anderen beiden Kinder zu erkennen, die wie schlafend, aber mit blauen Lippen und Wangen dalagen. Dann wechselte das Bild. Sie sahen den Jungen. Er kam über eine Schneefläche gelaufen, wie sie Eiskobolde nicht hätten schöner finden können. Eins der Mädchen lief ihm entgegen und ebenso entsetzt wie sie bemerkten die Naturgeister auf einmal, dass Blut in den weißen Schnee tropfte. Sie blickten direkt in die Augen des sterbenden Kindes, das ...

"Genug!" unterbrach jemand die erfrorenen Gedanken des Rates. Der Sturm verebbte und letzte Flocken sanken zu Boden. Ferija, die Waldelfe, war aufgestanden und schlug mit der Faust auf den Ratstisch "Es reicht!", sagte sie heftig und funkelte Jiselle und Wesweh an, der zurück auf seinen Platz sank. Durch die offenen Fenster der Halle strömte Sonnenlicht herein und wärmte die Luft. Leben kam wieder in die Versammlung und das Summen vieler Stimmen schwoll langsam an. Jiselle hob die Hand bis der Rat sich wieder beruhigte. Sie hatte erwartet, dass Ferija noch etwas sagen wolle, aber energisch die Worte der anderen Waldelfen abwehrend hatte sie sich wieder gesetzt. Es war noch nicht vorbei. Jiselle deutete nun auf den Handelsmeister der Stadt: "Cyghian!"

Der Silberelf stand auf. Einen Moment starrte er vor sich hin und rang die Hände, als wisse er nicht, wie er beginnen soll. Dann aber hatte er sich gefasst und sah den Rat an. "Liebe Freunde, ich bin hier, um euch von den Sterblichen zu erzählen. Ich habe als Handelsmeister unserer Stadt viel mit ihnen zu schaffen. Ich gebe zu, dass es oft einen schwere Aufgabe ist, ihnen zu erklären, was sie in unserem Land tun dürfen und was nicht und vor allen Dingen warum. Das ist einen Frage, die ich oft zu beantworten habe. Warum darf ich dies nicht und warum das, warum darf ich den Baum nicht fällen, wann ich will, warum die Ente nicht töten, wenn ich kann. Sicher, es gibt die Stele, die ich jedem neuen Kaufmann zeige. Und sie wird gelesen, natürlich. Aber die meisten schütteln dabei den Kopf und ich sehe sie in der Stadt diesen und jenen fragen, ob dieses oder jenes denn erlaubt sei, ach, und natürlich warum."

Ein leicht belustigtes, leicht entnervtes Raunen ging durch den Saal. Einer flüsterte dem anderen Anekdoten über unwissende Sterbliche in Ohr und hier und da ertönte ein Kichern.

Cyghian lächelte ein wenig, scheinbar konnten alle seinen Erlebnisse verstehen : "Aber glaubt nicht, dass die Sterblichen bösen Willens sind." setzte er seine Rede fort, "Sie bemühen sich zu verstehen. Ich denke nur, dass wir ihnen zu wenig helfen. Lasst uns nicht ungerecht sein, lasst uns diesen Vertriebenen eine Chance geben, die eine ist.!" Beinahe selbst überrascht über seinen letzten Satz ließ sich Cyghian auf seinen Sitz fallen. Einige Male nickte er noch zu sich selbst, als wolle bekräftigen, was er eben sagte.

"Ho, he, das war wohlgesprochen!" rief Fjoll Sturmlotse dazwischen, noch bevor die Ratsmitglieder ein neues Gesumm anstimmen konnten. "Ich segle mit den Farern, wie ihr wisst, die übers Binnenmeer aus Greenland kommen. Da bin ich allein mit mehr als zweihundert Menschen auf einem Schiff. Kurz vor den Nebelriffen gehe ich an Bord und bleibe bei ihnen bis Titania." Er steht auf und wandert zum Fenster und wies hinaus,. "Seht, im Hafen liegen zur Zeit zwei Schiffe von ihnen, die WindFay und die StarGhost. Viele ihrer Besatzungsmitglieder befinden sich jetzt in unserer Stadt, und ich habe keine Bedenken, dass sie sich schlecht benehmen könnten. Denn", Fjoll drehte sich wieder zum Rat um, "in den langen Nächten an Bord erzähle ich ihnen Geschichten, Geschichten von uns Naturgeistern. Und ich weiß, dass sie mich verstehen. Sicher fragen sie viel, besonders die kleinen Menschen, aber ich frage sie auch viel. Über ihre Heimat, über andere Länder und andere Wesen."

"Seht ihr", schloss er seine Rede, als er wieder an seinem Stuhl angekommen war, "wie Cyghian es sagte, Verstehen ist der Schlüssel zum Zusammenleben. Immer sprechen wir davon, dass die Sterblichen unsere Lebensweise nicht verstehen und deshalb nicht bei uns leben können. Aber versuchen wir denn, sie zu verstehen und ihnen unsere Gebote so zu vermitteln, dass sie damit umgehen können?" Fjoll Sturmlotse schaute noch einmal in die Runde des Rates und setzte sich.

Jiselle stand auf. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont und sandte goldene Strahlen in die Ratshalle. Die marmornen Wände und Säulen, die Gesichter des Anwesenden, die Flügel der Feen, alles wurde in ein warmes Licht getaucht. Es wurde Zeit. "Ich habe die Zusage, dass die Erwarteten das Gastrecht nicht missbrauchen werden. Adsaharta von Than, hat Elbenkönig Oberon ihr Wort gegeben. Ich bin nicht gewillt, daran zu zweifeln." Die Gesichter im Saal waren auf die Oreade gerichtet. Ungewissheit und Erwartung lagen in der Luft als Jiselle weitersprach: "Ich frage nun den Rat der Stadt Titania, Handelsstadt der Naturgeister, Perle des Binnenmeeres: Wer unterstützt die Entscheidung, den Vertriebenen der Alten Welt aus dem Volk von Clanthon bei uns eine neue Heimat zu geben?"

Es folgte keine lange, spannungsvolle Stille, kein Murren und kein zögerndes Handheben. Die Ratsmitglieder hatten ihre Entscheidungen bereits getroffen. Hände gingen nach oben von Kobolden, Feen und Zwergen. Frohe Gesichter und leises Rufen begleiteten sie. Jiselle lächelte, obwohl erwartet war diese Zustimmung doch nicht sicher gewesen. Und sie war es noch immer nicht. Wesweh neben ihr hatte sich war gespannt und sah den Ratstisch hinab. An dessen Ende saßen die Vertreter der Waldelfen mit erschreckten Gesichtern. Ihre Hände lagen kraftlos auf ihren Knien und sie sahen einander verzweifelt und hilflos an. Ferijas Blick traf den von Jiselle. Sie versuchte darin zu lesen und Jiselle wusste, dass die Waldelfe etwas darin finden wollte, das ihr die Entscheidung erleichterte.

Aber Jiselle wollte, dass sie ihre Entscheidung alleine trafen. Einen Moment zögerte sie noch, um den Waldelfen etwas Zeit zu lassen. Dann griff sie nach dem silbernen Hämmerchen und hob ihn. Noch einmal schaute sie ans Ende des Tisches. Kilroy hatte die Hand gehoben. Ferija sah ihn entgeistert an, aber er wich ihrem Blick aus und sah nach vorn. Langsam, als könne sie selbst nicht glauben, was sie da tat hob nun auch die Waldelfe ihre Hand und mit ihr ihre die drei Gefährten.

Jiselle wollte den Hammer schon erleichtert auf den Amboss sausen lassen, als Wesweh, der nun in ihrer Augenhöhe in der Luft schwebte, sie am Arm hielt. Von seinem Stuhl trat Pnutsch auf den Tisch. Es patschte ein wenig, als seine Füße auf dem glatten Marmor kleine Pfützen hinterließen. Er hob seine Hand mit den Schwimmhäuten zwischen den Fingern und gluckste leise: "Ich."

Pling!

Das Silberhämmerchen schlug auf den Amboss. Als seien die Figuren eines Bildes zum Leben erwacht begannen die Ratsmitglieder wieder, durcheinander zu laufen und zu reden. Jiselle sah zum Fenster. Eben war die Sonne hinter dem Horizont verschwunden und die schmale Sichel des zunehmenden Mondes stand am klaren Abendhimmel. Das Diadem begann zu leuchten. Würden die Neuankömmlinge unter den neuen Sternen eine Heimat finden?

Gnisseldrix
1998