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Der Klabautermann

"Hooo, ihr faulen Burschen, wollt ihr wohl in die Wanten!" tönte die raue Stimme von Perik Molen über das Deck der Seeschreiter.
Die Männer beeilten sich, dieser Aufforderung nachzukommen. Es war wahrhaftig kein Vergnügen, mit den kräftigen Händen des Hauptbootsmannes nähere Bekanntschaft zu machen. Das musste auch Jak, der Schiffsjunge, feststellen, der sich nach Periks Meinung nicht rasch genug bewegte und so ein Tauende zu spüren bekam. Insgesamt aber war es eine gute Mannschaft, und so gewann die Seeschreiter bald an Fahrt.

Der stämmige Hauptbootsmann machte sich auf den Weg zum Achterdeck. Kapitän Dirion stand dort mit dem Steuermann zusammen. Molen salutierte. Die Seeschreiter war ein kryischer Handelssegler, und obwohl die Besatzung ziemlich gemischt war, so herrschten doch die kryischen Traditionen vor. "Das Schiff steht unter vollen Segeln, Herr. Mit etwas Glück können wir in der Morgendämmerung an der Küste sein."
"Gute Arbeit!" lobte der Kapitän. "Wenn sich das Wetter hält …"
"Aye", murmelte Lorik, der einäugige Steuermann, "wenn sich das Wetter hält. Das kann im Binnenmeer ziemlich trügerisch sein."
"Unsinn", widersprach Perik, "der Wind steht gut, und die Sonne ist von keiner Wolke bedeckt."

"Trotzdem kann sich das Wetter hier schnell ändern. Glaub's mir, Jungchen." Lorik war in bezug auf sein Gespür sehr eigen, und Perik seiner Meinung nach viel zu jung, um die Gefahren dieser See zu verstehen. Wenn es nur das Wetter wäre. Es gab hier noch ganz andere Dinge. Er musste es wissen, denn er befuhr das Binnenmeer seit nunmehr fünfzig Sommern.

Doch würde er nie diese eine Nacht vor vielen Jahren vergessen. Da war er kaum ein Mann gewesen, ein Junge von fünfzehn Sommern, zum ersten Mal auf großer Fahrt. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, aber niemals würde er jenes geisterhafte Langschiff vergessen, das des Nachts ihren Weg gekreuzt hatte. Ein silbriger Schatten, so voller Glanz und Schönheit, dass es alle Männer in Ehrfurcht versetzte und es beinahe einen Zusammenstoß gegeben hätte. Er hatte nie wieder etwas Ähnliches erlebt, aber vielen Geschichten gelauscht. Viele Seeleute wussten von gar wunderlichen Dingen zu berichten, die sich auf dem Binnenmeer zugetragen hatten. Aber die meisten Männer dieser Besatzung waren zu jung, um anständig zuzuhören, und zu nüchtern, um den alten Geschichten Glauben zu schenken.

Lorik Steuermann war trotzdem lieber vorsichtig. Aufmerksam betrachtete er den Himmel, während er die Seeschreiter auf sicherem Kurs hielt. Perik schien recht zu behalten. Das Wetter hielt sich. Zumindest bis zum Einbruch der Dämmerung.

Als erstes wurde der Wind schwächer. Dann zog Nebel auf. Erst nur wenig, dann immer mehr. Schließlich wurde er so dicht, dass man kaum zwanzig Schritt weit sehen konnte. Der Kapitän ließ Positionslichter setzen und wies die Männer an, in regelmäßigen Abständen auf leere Wasserfässer einzuschlagen, um sich durch Lärm bemerkbar zu machen.

Es dauerte eine Weile, bis Dirion etwas auffiel: Die Männer waren so still. Sonst tönte es an Deck fast so laut wie in einer Hafenkneipe, die Gespräche waren meist auch ähnlich: Gesang, lautes Rufen und Bemerkungen über diese oder jene Maid waren immer zu hören. Aber jetzt verrichteten die Seeleute ihre Arbeit schweigend.
Dirion rief Perik zu sich.
"Ja, Herr?"
"Finde heraus, was mit den Männern los ist! Sie arbeiten härter und besser als sonst, aber sie rühren sich kaum."
"Das kann ich Euch auch so sagen, Herr. Sie fürchten sich. Viele von ihnen glauben ziemlich wunderliche Geschichten über eine verwunschene Insel, die hier irgendwo in der Nähe liegen soll. Seltsames Volk lebe dort. Aber wenn ihr mich fragt, dann ist das Loriks Schuld, der macht mit seinem Gerede alle verrückt."
"So, so. Lorik, hm?" brummte der Kapitän, und sogleich suchte er seinen Steuermann auf. Eigentlich sollte Lorik schon vor zwei Stunden abgelöst worden sein, aber der hatte den zweiten Steuermann wieder weggeschickt und das Steuer behalten. Darüber war Dirion nicht gerade unglücklich, Lorik war ein besserer Steuermann und viel erfahrener als Menrad. Und - Gespenster hin, Gespenster her - Nebel war immer gefährlich.

Der Steuermann beteuerte, seine Worte entsprächen der Wahrheit, und er bat den Kapitän, keine lästerlichen Reden zu führen, die das verwunschene Volk erzürnten und sie alle dem Untergang weihten.

Kapitän Dirion wusste nicht mehr, was er glauben sollte - verwunschenes Land, seltsames Volk und all diese Dinge … Aber Lorik hatte mit solcher Ernsthaftigkeit gesprochen, dass er beinahe geneigt war, dessen Worten Glauben zu schenken. Und eines war so sicher wie die Sonne und das Firmament: Auf Loriks Gefühle konnte man sich verlassen. Wenn er sagte, etwas sei nicht in Ordnung, dann hatte er von hundertmal neunundneunzigmal recht. Dirion ließ die Wachen verdoppeln. Außerdem weckte er Stilizzo, einen caswallonischen Matrosen; den Gerüchten zufolge sollte der magiekundig sein - hauptsächlich war er faul. Der schwarzhaarige Caswallonier ging zum Bug und konzentrierte sich. Tastete vorsichtig nach Leben im Nebel, ob etwas da wäre und wenn ja, welcher Art. Aber er konnte nichts finden. Der Kapitän wusste nicht, ob er das beruhigend oder beunruhigend finden sollte. Seine trüben Gedanken wurden jäh unterbrochen.

"Land in Sicht! Land in Sicht!" rief der Matrose im Krähennest, und seine Stimme klang durch den Nebel geisterhaft dünn. Dirion nahm sein Fernrohr zur Hand - tatsächlich, Land! Sollte das schon die Küste von Greenland sein? Aber der Wind war so wenig gewesen, oder hatten sie über den Tag doch bessere Fahrt gemacht? Oder sollte Lorik vielleicht doch recht behalten haben, und dies war das verwunschene Land?

Die Männer wurden jetzt unruhig. Ihre gehetzten Stimmen waren gedämpft durch den Nebel zu vernehmen. Einige murmelten ununterbrochen Gebete. Dann hörte Dirion eine lautere Stimme. Sie gehörte Lorik: Der wies die Seeleute an, die Segel ordentlich zu befestigen und dann unter Deck zu gehen. "… es heißt, manche Dinge seien so schändlich für menschliche Augen, dass diese sofort erblinden." Die Männer ließen sich das nicht zweimal sagen und befolgten freudig die Befehle. Sogar Perik. Wortlos gingen sie an ihrem Kapitän vorüber; Lorik als letzter: "Kommt, Herr, geht unter Deck! Dann ist Euer Leben nicht bedroht."

"Lorik!" rief der Kapitän erbost. "Jetzt ist es genug mit den alten Geschichten. Das ist Meuterei!"
"Tut mir leid, Herr, aber das Leben der Männer und mein eigenes sind mir wichtiger." Dann ging er einfach am Kapitän vorbei, die Achtertreppe hinunter; Dirion hörte ein Knirschen, als die Luke verriegelt wurde.
Er fluchte und stellte sich selbst ans Steuer. Die Seeschreiter war sein Schiff, und er würde sie sicher nach Hause bringen. Und wenn er dazu das verwunschene Land umsegeln musste.

Einsam hielt er Wacht, während die Minuten dahintropften und zu Stunden wurden. Immer noch konnte er das Land im Nebel vor sich sehen, aber er war ihm nicht einen Schritt näher gekommen. Auch gut, dachte er, doch er musste zugeben, dass er schon seit zwei Stunden völlig die Orientierung verloren hatte.

Furcht umklammerte sein Herz. Sollte er dazu verdammt sein, auf ewig im Nebel umherzuirren oder gar sein stolzes Schiff irgendwo vor fremden Gestaden auf Grund zu setzen? Die Nacht brachte ihm keine Antwort, und so segelte er einfach weiter. Bald wurde er müde, denn das Klatschen der Wellen an den Seiten wirkte einschläfernd. Schließlich glaubte er zu träumen, und im Traum hörte er ein leises Singen. Eine schöne Stimme, die fröhlich ein Lied sang.

Er schreckte auf. War er eingeschlafen?
Jetzt war er wieder wach, aber das Singen war noch da. Es kam vom Bugspriet her. Zwischen Angst und Neugier hin- und hergerissen, blieb er wie erstarrt stehen. Dann siegte die Neugier. Er packte sein Entermesser fester und betete zu den Göttern, seine arme Seele zu verschonen. Langsam ging er zum Bug.
Eigentlich war der Gesang sehr schön, aber Dirion war so davon überzeugt, es müsse sich um etwas Schlechtes handeln, dass er sich weigerte, das wahrzunehmen. Schließlich stand er auf dem Vorderdeck.
Da verstummte der Gesang.
Durch die Dunkelheit und den Nebel konnte Dirion schlecht sehen. Aber dort im schwachen Licht der Positionslampe war etwas zu erkennen: eine kleine Gestalt, die auf dem Bugspriet saß. Ein Männlein war es, kaum drei Fuß hoch. Sein Gesicht war wettergegerbt, und die Augen blickten freundlich. Es trug ein Matrosenleibchen und eine ausgefranste Hose, die bis zu den Knien reichte. "Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen", bat es liebenswürdig.

"Erlaubnis erteilt", stammelte Dirion verwirrt.
Das Männlein erhob sich und ging auf ihn zu. Seine nackten Füßchen hinterließen feuchte Spuren auf dem Deck.
Da endlich begriff Dirion … Der Klabautermann! Er war gekommen, das Schiff zu verfluchen und ihn in die Tiefen des Meeres hinabzureißen. Denn der Klabautermann brachte immer Unglück. Zitternd wich Dirion einige Schritte zurück.

"Kapitän, bitte. Wohl bin ich ein Klabautermann, aber doch kein Dämon. Unsere Völker wissen so wenig voneinander, und doch sind beide geneigt, nur die schrecklichsten Geschichten zu glauben, die erzählt werden."

"Wer bist du dann?"
"Wie ich schon sagte, ein Klabautermann."
"Und was tust du hier?" Das Männlein lächelte gutmütig: "Ich bin hier, um dir zu helfen. Wir Klabautermänner wachen über die Seeleute, die ehrbar das Meer befahren, und weisen ihnen den Weg, wenn sie einmal den falschen Kurs genommen haben."

Dirion wurde blass, zu viele Dinge stürmten auf ihn ein. Das verwunschene Volk war wirklich, und dann musste das Land diese Insel sein, von der die Seeleute nur flüsternd sprachen. Er wurde mutiger: "Das Land dort ist dein Land, nicht wahr?"

Das Männchen lachte verschmitzt: "Ja, wir nennen es Dewhani Estrivel, die Geisterinsel. Du bist ein gutes Stück von deinem Kurs abgekommen, Kapitän. Warte, ich werde dir helfen. Sieh her!"

Der Kapitän tat, wie ihm geheißen, und richtete seinen Blick auf das Meer. Und ehe er sich versah, schwand der Nebel und machte dem nächtlichen Sternenhimmel Platz. Er war so voller Pracht und Schönheit, wie Dirion ihn noch niemals zuvor bemerkt hatte. Die Sterne spiegelten sich im Wasser, und so die kleinen Lichter fröhlich über die Wellen tanzten, da wurde Dirion ganz warm ums Herz. Er war so berührt, dass sich eine einzelne Träne den Weg durch sein Gesicht bahnte und leise auf das Deck fiel.

Der Klabautermann ging zu dem Mann, der ihn um einige Fuß überragte, und berührte ihn sanft an der Hand. "Wenn du dich jetzt immer nach Nor hältst, wirst du bald die Küste von Greenland vor dir sehen. Viel Glück, Seemann! Aber eine Bitte hätte ich noch …"
"Welche?"
"Segle nie mehr so dicht an der Geisterinsel vorbei!"
Dirion schluckte schwer: "Ich werde mein Möglichstes tun."

Dann ging er zurück zum Steuer. Er genoss die klare Nacht und dachte über das nach, was ihm widerfahren war. Er würde das Geheimnis des Klabautermannes mit in sein Grab nehmen und nie einem Menschen davon erzählen, aber dennoch wollte er die anderen Seeleute trösten und den alten Geschichten ihre Grausamkeit nehmen.

So machte er ein Lied, und er hoffte, dass es von vielen Seeleuten in vielen Häfen gesungen werden würde. Dies war sein Dank an das kleine Männlein mit der zerfransten Hose, das so wunderschön gesungen hatte.

Finyen
1997